Mein Freund der kleine Pinsel

… ich war verloren in einer Welt aus Disziplin, Härte, Fremdbestimmung und Urteilen.
Ich spürte mich nicht mehr, ich hatte keine eigenen Ziele mehr, die Freude war weg
und der Sinn fehlte mir schon lange.

Mein Gesicht fühlte sich starr und leer an … ich lachte nur noch sehr selten.
Die Sehnsucht nach einem anderen Leben war mittlerweile sehr groß geworden bei mir.

So verloren, wie ich war, saß ich eines Abends vor einem leeren Blatt Papier.
Ich kramte die Malsachen aus der Schulzeit wieder hervor – viele bunte Farbtöpfchen und ein kleiner Pinsel waren noch übrig.

Ich erinnerte mich an meine Kindertage, was für ein phantasievolles Kind ich mal gewesen bin – voller Begeisterung und Ideen.
Lange verweilte ich in Erinnerungen an diese Zeit, die für mich verloren schien – verlorengegangen unter tausend Verpflichtungen, Anforderungen und Meinungen anderer Menschen.

Mein Blatt Papier blieb erst mal leer und ich war ratlos …

Plötzlich passierte etwas sehr Erstaunliches – der kleine Pinsel wurde lebendig und nahm meine Hand. Er fing sogar an zu sprechen: „Komm, versuch es mal, ich werde es dir zeigen … .“
Zuerst war ich unsicher und wußte gar nicht so recht, was tun … aber der kleine Pinsel schien es genau zu wissen … also folgte ich ihm.

Er hüpfte in einen Farbtopf nach dem anderen und er führte meine Hand über’s leere Blatt Papier.

Ich wunderte mich über das, was dabei entstand – Farben und Formen mischten sich auf dem Papier – Punkte und Striche wurden sichtbar … für mich nicht wirklich erkennbar, was das sein sollte aber dem kleinen Pinsel schien das gar nichts auszumachen.

So malten wir gemeinsam, der kleine fröhliche Pinsel und ich, und mit der Zeit merkte ich, dass das meine Lieblingsfarben und meine Formen und Muster waren, die da auf dem Papier ein undefinierbares Gemälde bildeten.

Der kleine Pinsel kannte wohl mich und meine Spur ganz genau.
Er half mir, meine Spur wieder zu erkennen – er war einfach für mich da.

Je mehr Farbe und Formen auf dem Papier entstanden, desto mehr spürte ich wieder mich selber.
Ein Lächeln huschte mir über’s Gesicht und es fühlte sich großartig an.
Der kleine Pinsel lächelte zurück.

Ich fühlte, dass das kleine phantasievolle und vor Freude hüpfende Menschlein aus Kindertage immer noch in mir wohnte.
Es hatte die harte Zeit meines Lebens unbeschadet überdauert und wollte jetzt wieder ans Tageslicht.

Viele lange Abende verbrachte ich mit meinem Freund, dem kleinen Pinsel.
Manchmal war es ruhig und nachdenklich, manchmal lebendig und heiter.

Ich hatte sie wieder gefunden, meine Spur, die mich täglich führt und mich meinen Sinn im Leben fühlen lässt.

Ich danke dir, mein kleiner Freund.

(Autorin Sabine Stemp „Die Seelenkonditorin“)